Schmale Pfade

Bay by Jim Dollar/flickr.com

Manchmal lassen mich die Figuren eines Romans lange nicht los. Das ging mir mit der „Fotografin“ aus Jocelyne Sauciers Roman „Ein Leben mehr“ so, mit Maggie aus „Der Duft des Regens“ von Frances Greenslade und jetzt mit Jim und Cadillac aus Alice Greenways Roman „Schmale Pfade“.

Wir schreiben das Jahr 1973. Jim Kennoway, ein Mann irgendwo zwischen 60 und 70, hat sich in das Ferienhaus der Familie auf einer der vielen Inseln der Penobscot Bay an der Küste von Maine zurückgezogen, hoch oben im Norden der USA. Hier betrauert er das Bein, das ihm vor Kurzem amputiert werden musste, ringt mit den Geistern der Vergangenheit und will sich allmählich zu Tode saufen.

Jim ist Ornithologe, Alkoholiker und Weltkriegsveteran. Vielleicht ist er auch Weltkriegsveteran, Alkoholiker und Ornithologe. Denn er ist zwar körperlich unversehrt aus dem Krieg zurückgekehrt, doch das, was er im Pazifik auf den Salomonen erlebt und getan hat, hat ihn für immer gezeichnet. Als kurz nach seiner Rückkehr auch noch seine Frau Helen Selbstmord beging, war das Maß voll. Jim zog Stacheldraht um seine Seele und seine Erinnerungen, sodass jeder sich verletzen musste, der ihm zu nahe kam. Er wurde zu einem grantigen Einzelgänger, kümmerte sich mehr schlecht als recht um seinen Sohn Fergus und hielt sein Leben überhaupt nur noch mit Alkohol und Zigaretten aus.

Eine eher abschreckende Gestalt, oder? Trotzdem: Alice Greenway versteht es, zwischen all den Stacheln, die Jim wie ein Igel aufstellt, seine sympathische, weiche, gewinnende Seite durchscheinen zu lassen. Das allerdings merkt man erst mit der Zeit. Die Leser/innen lernen Jim langsam kennen, wie das auch in der Realität geschehen würde.

Zurück ins Jahr 1973. Statt auf der Insel seine Einsamkeit pflegen zu können, kündigt ein über und über mit Briefmarken beklebter Umschlag Besuch aus der Vergangenheit an. Im Pazifikkrieg hatte Jim den Auftrag, von einer kleinen Salomoneninsel aus die Schiffsbewegungen der Japaner zu beobachten. Ihm zur Seite stand der Einheimische Tosca. Und dieser Tosca schickt nun seine Tochter Cadillac zu ihm.

Cadillac hat ein Stipendium gewonnen und wird in New York Medizin studieren. Zuvor soll sie sich bei Jim ein wenig akklimatisieren. Damit ist nicht nur der Klimaunterschied zwischen der Ostküste der USA und den Salomonen im Südpazifik gemeint. Damit ist auch das kulturelle Umfeld gemeint, USA gegen Salomonen. Doch da hat Jim ihr nichts zu bieten. Wegen seines Beins kann er mit ihr keine Ausflüge unternehmen, er würde es aber auch nicht wollen. Die Insulaner sind nicht wenig überrascht von Cadillacs Ankunft.

„Sie erinnerten sich noch an die Ankunft des Mädchens. Obwohl sie erst später, Mitte Juli, mit den letzten Sommergästen eingetroffen war, sodass sie ihnen eigentlich nur wegen ihrer Hautfarbe auffiel. Was nichts besonderes heißen soll, bloß dass damals nicht so viele Schwarze an der Küste Maines lebten oder auch nur zu Besuch kamen. …
Aber dieses Mädchen war anders. Nicht bloß schwarz, sondern pechschwarz, schwarz wie Bootsöl. Als wäre sie direkt aus Afrika gekommen. Mit dem großen Heiligenschein ihrer Haare und einem Kleid mit aufgedruckten, knallbunten Blumen, Hibiskusblüten wohl, wie jemand meinte, und einem altmodischen Lederkoffer mit Schnallen, der so aussah wie einer, den man vielleicht noch ganz hinten auf Muttis Dachboden findet. Noch sonderbarer war‘s, dass sie bei Jim einzog.“ (12)

Diese Sätze stammen aus dem „Prolog“, der deutlich macht, dass der Roman aus der Rückschau erzählt wird. „Schwarz wie Bootsöl“ – dieses Bild hat mich angezogen und mich neugierig gemacht auf weitere Bilder dieser Art.

Da Jim den Brief mit der Nachricht, dass er Besuch bekomme, erst einen Tag vor Cadillacs Ankunft erhält, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sie in Empfang zu nehmen und bei sich einzuquartieren. Doch er bleibt kratzbürstig und auf Distanz, nennt sie nicht beim Namen, sondern „Mädchen“. Cadillac ist ihm lästig, weil sie seinen Alltag stört.

„Er ist immer noch betrunken vom gestrigen Abend. Er sollte nicht so viel trinken, solange das Mädchen im Haus ist. Aber geht es nicht genau darum? Er will nur tun und lassen, was ihm passt. Trinken. Rauchen. Nackt rumlaufen und Gedichte rezitieren, wenn ihm danach ist. Ist er nicht deshalb hierhergekommen?
Er will sie nicht hier haben.
Zum Teufel damit, er will sich das nicht länger antun. Er wird ihr sagen, dass sie verschwinden muss.“

Cadillac löst Erinnerungen aus, die für Jim bedrohlich und schmerzhaft sind. Erinnerungen an den Pazifikkrieg, an die Zeit mit Tosca, an krepierende Granaten und umherfliegende Körperteile. Ja, sogar Kindheitserinnerungen weckt ihr Besuch. Auch die sind für Jim nicht nur angenehm, weil sie ihn schmerzhaft an seine verstorbene Frau Helen erinnern, ohne die er sich nicht vollständig fühlt. Wie die Ärzte sein Bein amputiert haben, hat der Tod ihm seine Frau genommen und eine Wunde hinterlassen, die nie verheilt ist.

Doch Jim bringt es dann doch nicht fertig, Cadillac aus dem Haus zu weisen. Im Gegenteil. Im Laufe der Geschichte ersetzt „Cadillac“ die Anrede „Mädchen“. Deshalb wird aus dieser Geschichte, die so verkürzt zunächst wenig einladend klingt, doch ein Roman, den man gerne liest. Cadillac begegnet Jim unverkrampft,offen und frei. Und sie beeindruckt ihn, gleich am ersten Morgen nach ihrer Ankunft.

Von ihrem Morgenspaziergang bringt sie eine Flunder mit. Jim hatte Kaffee gekocht, jetzt lehnt er am Küchentresen und sieht zu, wie Cadillac die Scholle zubereitet.

„Sie trägt einen Sarong, ein farbenfrohes Tuch, das die Insulaner Laplap nennen. Er beobachtet, wie sie das Messer mit einer roten Spur zur Mitte führt, um die Eingeweide des Fischs zu entnehmen, und trennt sie sauber heraus. Sie würde bestimmt einen guten Chirurgen abgeben – groß, zuverlässig, selbstbewusst, sicher. Er stellt sie sich im weißen Kittel seines Doktorvaters mit einem Stethoskop um den Hals vor.“

Jim denkt unterdessen, dass er früher auch Fische schuppen und ausweiden konnte. Und Vögel konnte er auch präparieren.

Alice Greenway wiederum kann mit wenigen Worten Bilder und Atmosphäre zeichnen:

„Fischschuppen kleben an Spülbecken und Tresen. Die hell durchs Fenster fallende Sonne funkelt auf ihnen und wirft zitternde Flecken gebrochenen Lichts über ihr Gesicht und ihre Arme. In seine Augen. Blendet ihn.“

Als Jim die Scholle in die Pfanne legt, sieht er einen Riss hinter den Kiemen. „Großer Gott, sie hat ihn mit einem Speer erlegt!“ Seine Gedanken schweifen in die Südsee, in die Zeit, die er mit ihrem Vater Tosca dort verbracht hat, der ebenfalls Fische mit dem Speer gefangen hat.
Cadillac hilft ihm, sich ein wenig zu öffnen. Greenway hat dafür ein eindrucksvolles Bild gewählt: Als Jims Sohn Fergus seinen Besuch ankündigt, zieht Jim ins Bootshaus. Das war lange Zeit ungenutzt und verschlossen.

„Innen ist es duster und muffig. Sonnenstrahlen brechen durch geschlossene Jalousien, fallen über eine große Werkbank und eine umgedrehte Jolle. Es riecht durchdringend nach Schimmel und Moder. … Sarah [die Tochter eines Nachbarn, die ihn mit dem Nötigsten versorgt] geht jetzt mit großen Schritten voran, hebt einen schweren Riegel an und stößt zwei große Türen auf, die überm Wasser aufschwingen, lässt Luft und Licht herein und braun-grüne Lichtreflexe, die über die Astlöcher der verwitterten Kiefernholzwände zittern.“

Solche Beschreibungen, die nicht nur einen Raum, eine Landschaft, eine Situation beschreiben, sondern auch deren Atmosphäre, machen den Roman aus. Sie hinterlassen selbst in den düstersten Episoden von Jims Lebensgeschichte ein Leuchten, wie einen Lichtschein, der unter einer geschlossenen Tür hindurch in einen dunklen Flur dringt.
So wie Jim mithilfe seiner Nachbarin Sarah das Bootshaus öffnet und lüftet, hilft Cadillac ihm, sich zu öffnen, den Stacheldraht vor seinen Erinnerungen und Verletzungen wegzuräumen und ganz allmählich sich auf seine Lebensgeschichte einzulassen. Dieser versöhnliche Zug macht auch das harte Ende erträglich.

Jim war Ornithologe. Schon als Kind interessierte er sich für Vögel, identifizierte die Vogelstimmen der Inselwelt in Penobscot Bay und beobachtete die Tiere, wann immer sich Gelegenheit bot. Diese Leidenschaft spiegelt sich im Roman wider, wenn der Erzählfluss für kürzere oder längere Vogelbeschreibungen untebrochen wird.

Alice Greenway konzentriert ihren Roman ganz auf Jim. Alle anderen Figuren sind nur Statisten, Katalysatoren, die nötig sind, damit Jim sich an seine Lebensgeschichte herantasten kann. Das hat den Nachteil, dass sowohl Cadillac als auch Fergus – Jims Sohn – nur als Abziehbilder sichtbar werden. Sie sind (mir) nicht plastisch genug. So erfahren die Leser/innen beispielsweise nur in Randbemerkungen, wie es sich für Cadillac anfühlt, ihren USA-Aufenthalt ausgerechnet bei Jim zu beginnen. Ist das nicht enttäuschend? Vielleicht sogar beängstigend? Mit welchen Vorstellungen und Erwartungen ist sie zu Jim gekommen? All das bleibt offen. In ähnlicher Weise gilt das für Fergus.

Doch das tut dem Lesegenuss nur wenig Abbruch. Greenways Roman erzählt in poetischer Sprache mit eindrucksvollen Bildern von den Klippen eines Lebens und davon, dass es auch spät im Leben gelingen kann, sich mit seiner eigenen Geschichte auszusöhnen. Wer leicht melancholisch gestimmte Romane mag, mit viel Landschaftsbeschreibungen, Meeresrauschen und Figuren, die mit ihrer Biografie ringen, ist hier genau richtig.

Cover
Cover: Mare Verlag

 

Alice Greenway: Schmale Pfade. Roman. Hamburg, Mare 2016. 365 S., 22,00 €

Titelbild: Penobscot Bay by Jim Dollar/flickr.comCC BY-NC 2.0

Weitere Rezensionen zu diesem Titel bei:

readindie von Klappentexterin

 

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