Der gefährlichste Ort der Welt

Mammutbäume in Mill Valley, Kaliforien

„… als wäre die Mittelschule ein sicherer Hafen … und nicht der gefährlichste Ort der Welt“

Lindsay Lee Johnson stellt ihre Figuren nicht bloß, ganz egal, was sie anstellen. Mit Wärme und Respekt erzählt von neun Jugendlichen während der Middle- und Highschool-Zeit. Tristan, Callista, Ryan, Abigail, Elisabeth, Dave, Damon, Nick und Emma leben in Mill Valley, Südkalifornien. Weder verurteilt sie Damon, der immer wieder seine Grenzen austestet und dabei auch zu weit geht, noch Nick, der Partys in leer stehenden Villen organisiert, mit Drogen dealt und gegen Honorar Zulassungstests zur Uni schreibt. Auch über Callista, die Erzählerin, von der der Klappentext behauptet, sie sei „kalt“, bricht sie nicht den Stab.

Zu Beginn, da sind die Jugendlichen in der achten Klasse, erhält sie einen Liebesbrief von Tristan. Tristan gilt als „seltsam“, ist ein Außenseiter. Er kleidet sich unvorteilhaft (eine schreiend gelbe Jogginghose, geht gar nicht!) und hält sich zu sehr an die Lehrer/innen. Für die soziale Hackordnung scheint er keine Antenne zu haben, vielleicht ist sie ihm auch egal. Freunde hat er in der Schule keine. Er finde sie schön, schreibt Callista, schöner als Elisabeth, die als die unerreichbare Traumfrau ihrer Stufe gilt.

„Du denkst wahrscheinlich nicht, dass dich hier in der Schule jemand sieht, aber ich sehe dich. Dich richtig sieht, meine ich.“

Callista ist von dem Brief völlig verunsichert. So offen und unverstellt wird unter den Jugendlichen nicht über Gefühle gesprochen. Gleichzeitig rührt der Brief etwas in ihr an: „… ich sehe dich. Dich richtig sieht …“. Sie zieht ihre Freundin Abigail zurate und geht schließlich mit dem Brief zu Ryan, mit dem sie – mehr oder weniger – zusammen ist. Damit nimmt ein Verhängnis seinen Lauf, das sich auf Facebook verlagert und damit endet, dass Tristan von der Golden Gate Bridge springt. Drei Jahre danach beginnt Callista, diesen Roman zu schreiben. Sie hat eingesehen, dass sie nicht vergessen und nicht sterben kann, deshalb will sie verstehen.

„Ihr war klar, dass der Junge ihretwegen tot war. Sie hatte eine Reihe von Entscheidungen getroffen, die ihr im jeweiligen Moment unbedeutend erschienen waren, die aber alle zusammen Tristans Ende herbeigeführt hatten. Tristan, der ein ganz eigener Mensch gewesen war. Ein Mensch, das sah sie jetzt, der gar nicht so anders gewesen war als sie.“ (278)

Nach seinem Tod sucht sie sich eine neue Clique, vernachlässigt die Schule, ist mehr oder weniger den ganzen Tag über high. Doch Tristan kriegt sie nicht aus dem Kopf.

„Manchmal vermisste sie ihn seltsamerweise, sah sie beide zusammen in einer neuen Clique von Außenseitern vor sich. War es vermessen, sich vorzustellen, sie hätte ihm die Jogginghose ausreden, ihn dazu bringen können, sich die Haare wachsen zu lassen … War es eine Illusion, dass er vielleicht hätte lernen können, ein bisschen cooler, ein bisschen weniger dünnhäutig zu sein?“ (281)

Erst eine zweite Katastrophe, ein schwerer Unfall nach einer Party am Ende der Highschool-Zeit, löst sie aus ihrer Erstarrung.

„Nur wenige Stunden zuvor … hatte sie sterben wollen. Im Auto hatte sie sich dann im allerletzten Moment doch angeschnallt. Eine instinktive, scheinbar unbedeutende Entscheidung – von bleibender Bedeutung. Sie war verschont worden.

Tristan Blochs Selbstmord lag drei Jahre zurück. Sie konnte Tristan nicht vergessen, und sie konnte ihm nicht folgen. Nicht einmal Buße half. Jetzt wollte sie verstehen.“ (290/291)

Deshalb schreibt sie die Geschichte auf, schreibt sich Tristans Tod, wie es dazu kam und was danach passierte, von der Seele. Sie widmet jeder/m ihrer Mitschüler/innen ein Kapitel, in dem aus seiner/ihrer Sicht in der dritten Person das Geschehen beschrieben und reflektiert wird. Wer waren die Menschen, mit denen sie zu tun hatte? Was trieb sie an? Wie entstand aus vielen unbedeutenden Entscheidungen das Verhängnis – erst für Tristan, dann für die vier, die mit ihr in den schweren Unfall verwickelt wurden?

Äußerst geschickt webt Lindsay Lee Johnson aus Sicht der Jugendlichen ihren Roman. Kapitel für Kapitel ist einem/r von ihnen gewidmet. Wie beim Staffellauf erfolgt der Übergang oder der Anschluss untereinander durch Szenen, die erst aus der Perspektive des einen und dann aus der des nächsten Jugendlichen erzählt werden. Jeder von ihnen hat sein eigenes Päckchen zu tragen, eine schwerkranke Mutter, wie Callista. Eltern, die völlig in ihrem Beruf aufgehen und darüber ihre Kinder vernachlässigen, wie Abby. Nick leidet unter der Trennung seiner Eltern – und rächt sich, indem er „Geschäfte“ macht. Elisabeth ist ausgesprochen hübsch und total schüchtern. Dave fühlt sich den Erwartungen seiner Eltern nicht gewachsen – und sie sehen nicht ihren Sohn, sondern ihre Wunschvorstellung. Damon findet keine Anerkennung bei seinem Vater, seine Mutter behandelt ihn wie einen Erstklässler, zumindest kommt es ihm so vor. Seine Eltern vermitteln ihm beständig, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Psychotherapeut, Erziehungsberater, Lehrer … Sie alle „fragten ihn immer wieder, warum er nicht ruhig und brav sein und auf sie hören konnte, während er dasaß und innerlich die Sekunden abzählte und dachte, dass er glücklich sterben würde, wenn sie ihn nur endlich rausließen.“ (176)

Das Getue dieser Leute geht ihm auf den Geist. Er braucht nur etwas „Action“, kein geheucheltes Interesse, sagt er. An der Sache mit Tristan hatte er sich u.a. mit ein paar deftigen Kommentaren auf Facebook beteiligt: „Wenn ich sone Fresse hätte wie du würd ich mich erschießen.“ (43) Das sei alles nicht ernst gemeint gewesen, sagt er später. Als die Schule versuchte, ihn für die Folgen dieses Mobbings zur Verantwortung zu ziehen, stellte sein Vater sich schützend vor ihn. Aus Damons Sicht ging es seinem Vater, einem angesehenen Anwalt, allerdings in erster Linie darum, seinen eigenen Ruf zu schützen. Für Damon zeigte diese Episode einmal mehr, dass ihm nichts etwas anhaben konnte. „Und wenn ihm nichts etwas anhaben konnte, war es egal, was er tat.“ (178)

Als Damon wegen Drogenbesitzes verhaftet und zu einer Therapie verurteilt wird, trifft er zum ersten Mal in seinem Leben auf einen Menschen, der ihn ernst nimmt. Die Passage, in der erzählt wird, wie es dem Coach – Lance – gelingt, eine Beziehung zu Damon aufzubauen, ist ein Meisterstück und verweist auf das Herz des Romans: Menschen „richtig“ zu sehen, nicht Status, Äußeres oder ihr Verhalten, sondern ihn selbst, so gut das geht.

„Lance versuchte nicht, über den Sport eine Beziehung zu Damon herzustellen. Er versuchte nicht, ihn damit zu beeindrucken, wie schwierig alles gewesen war, als er vor einer Million Jahren selbst an der Highschool gewesen war. Er stellte keine so megabescheuerten Fragen wie die meisten Erwachsenen: Was ist dein Lieblingsfach in der Schule? Freust du dich nicht, dass du nächstes Jahr deinen Abschluss machst? An welchem College wirst du dich bewerben? Dieser ganze Bullshit interessierte Lance nicht. Sie redeten einfach über irgendwas. Dass Tyler, The Creator der beste Rapper seit Hova war und dass Damon ausrasten würde, wenn er nicht bald sein iPhone und seine Kopfhörer zurückbekam. Dass sich die Bettlaken hier wie Sackleinen anfühlten und man sich nachts schier den Arsch daran wundrieb. Dass das Essen hier eine Katastrophe war bis auf den Frozen Yoghurt, den sie freitags kriegten, und der, wie Damon zugeben musste, ziemlich geil war.

Dann fing Lance an, lauter Sachen zu fragen, die ihn bisher noch nie jemand gefragt hatte – nicht, warum er nicht stillhalten konnte, sondern was ihm wichtig war und wie er sich sein Leben vorstellte. Lance wollte auch noch andere Sachen wissen, zum Beispiel, was er gern rauchte und was er gern trank und was sich in seinem Leben so abspielte und was in seinem Kopf, wenn er beschloss, sich mal wieder die volle Dröhnung zu geben.“ (180-181)

In der Therapie beschloss Damon, sich anders zu verhalten, das letzte Highschool-Jahr zu überstehen, um dann frei zu sein. Frei auch von seinem Vater. 12 Wochen hält er die guten Vorsätze durch. Doch dann geht er auf die Party, an deren Ende der schwere Unfall steht. Den er verschuldet hat, betrunken und high.

Lindsay Lee Johnson studierte professionelles Schreiben und Anglistik und lehrte an verschiedenen Universitäten in den USA. Durch die Weltfinanzkrise verlor sie ihre Dozentenstelle und kehrte zurück in ihre Heimat Marin County in Kalifornien, wo auch ihr Roman spielt. Eher als Notlösung begann sie, an einem privaten Nachhilfeinstitut Highschool-Schüler zu unterrichten. Nachdem sie sich anfangs sehr schwer tat – die Lautstärke und der Umgangston der Schüler störten sie sehr – gelang es ihr Zugang zu de Jugendlichen zu finden. Im Nachhinein, sagt sie in einem Interview, sei das eine der besten Zeiten ihres Lebens gewesen.

Ihre Arbeit mit den Jugendlichen inspirierte sie zu diesem Roman, ihrem Debüt. Ihre Figuren zeichnet sie einfühlsam und mit einem wachen Blick für ihre Befindlichkeiten, für ihre Stärken und Schwächen. Dazu kommt ein ganz eigener Ton, der die Figuren und ihre Umgebung, das Städtchen Mill Valley und die Highschool zum Leben erweckt. Anders als der deutsche Klappentext es will, geht es ihr nicht um Moral, schon gar nicht um die Entlarvung des amerikanischen Traums. Fiktion, sagt sie in einem Interview, soll keine Moral lehren, sondern zeigen, was ist. [„Fiction does‘nt have to teach a moral lesson, it just has to show what is.“]

Sie erzählt von der Lebenswelt wohlhabender Jugendlicher an der US-Westküste und sieht sie, wie sie sind, „richtig“, wie Tristan in seinem Liebesbrief schreibt, nicht nur das Äußere, ihren Status, ihre mehr oder weniger angepassten Verhaltensweisen. Diese jungen Menschen verhalten sich kaum anders als Jugendliche in den Generationen zuvor. Die Schule war schon immer ein schwieriges Pflaster, für Callista sogar der „gefährlichste Ort der Welt“. Anpassungsdruck und Konkurrenzverhalten, Leistungsdruck und die selten kompatiblen Erwartungen von Lehrer/innen und Schüler/innen führen dazu, das in der Schule eben nur selten harmonische Verhältnisse herrschen. Im Roman erweisen sich außerdem Kommunikation und Empathie als zwei Grundprobleme. Weder die Kommunikation zwischen den Jugendlichen gelingt wirklich, zumal sie sich nur in Ausnahmefällen trauen, ihre Gefühle preiszugeben, noch funktioniert die Kommunikation zwischen ihnen und ihren Eltern, daran ändern alle modernen Kommunikationsmittel nichts. Eher verschärfen sie das Problem noch, weil Konflikte viel öffentlicher ausgetragen werden und Missverständnisse eine verheerende Wirkung entfalten. Von dieser Seite der Geschichte aus betrachtet, ist nicht die Schule der gefährlichste Ort der Welt, sondern Facebook & Co. Auch ein Mangel an Empathie – sowohl aufseiten der Jugendlichen wie aufseiten der Eltern wird dramatisch sichtbar. Erschreckend ist auch das Maß an Verantwortung, das die Eltern in diesem Roman den Jugendlichen aufbürden, aus Bequemlichkeit, um ihr eigenes Leben führen zu können. All das kommt ohne moralischen Zeigefinger oder Anklage zur Sprache – und wirkt dadurch um so eindringlicher.

Man muss in die Schuhe eines anderen Menschen schlüpfen, um ihn zu verstehen, heißt es. Johnson steigt in die Converse oder Nike Airs oder Flipflops dieser neun Jugendlichen und ermöglicht es ihren Leser/innen, die Welt aus deren Sicht zu betrachten. Und weil sie ihren Figuren so nahe kommt, ist dieser Roman trotz der beiden tragischen Ereignisse, die den ihn rahmen, einfach beglückend schön.

Links:

https://bookpage.com/interviews/20815-lindsey-lee-johnson#.WZKV3SlpyNI

http://www.lindseyleejohnson.com/about/

Bildnachweis: Das Headerbild zeigt Mammutbäume in Mill Valley, Kalifornien. Foto: Mattia Pancirolli/flickr.com cc by-nc-nd 2.0

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