Die Fotografin hatte Boychucks Blockhütte nach langer Suche endlich gefunden. Tief in den Wäldern Ontarios lag sie versteckt an einem See, in der Nachbarschaft zwei weitere Hütten. Die Fotografin porträtierte die Überlebenden der großen Waldbrände, die Anfang des 20. Jahrhunderts hunderte Quadratkilometer Wald vernichteten und zahlreiche Ortschaften niederbrannten. Boychuck war in der Gegend von Matheson eine Legende. Nachdem der große Brand den Ort zerstört hatte, soll er noch sechs Tage durch die Umgebung geirrt sein, bevor er für Jahre aus der Gegend verschwand.
Doch die Fotografin – deren wirklichen Namen die Leser/innen nicht erfahren – kommt zu spät. Von seinen Nachbarn – Tom und Charlie – erfährt sie, dass Boychuck wenige Tage zuvor verstorben ist. Neugierig versucht sie den wortkargen Männern Geschichten über ihn zu entlocken, doch sie geben sich zugeknöpft. Fasziniert von den beiden Alten besucht sie die Männer wieder, gewinnt ihr Vertrauen und erfährt schließlich, dass Boychuck hunderte Gemälde hinterlassen hat. Düstere Bilder, mit kräftigen, geradezu wütenden Pinselstrichen gemalt. Tom, Charlie und die Fotografin stehen ratlos davor.
Erst als ein Freund von Tom und Charlie, der sie mit all dem versorgt, für das sie nicht selbst sorgen können, Streichhölzer, Zigaretten, Obst, erst als also dieser Freund seine Tante zu den Männern bringt, finden sie einen Zugang zu Boychucks Bildern. Die Tante – Marie-Desneige – ist eine zarte Über-achtzig-Jährige, die 60 Jahre ohne Diagnose und Behandlung in der Psychiartrie eingesperrt war. Ihr Neffe brachte es nicht übers Herz, sie nach einer Familienfeier wieder dorthin zurückzubringen. Stattdessen fuhr er sie in den Wald zu Tom und Charlie. Sie kann die Bilder entschlüsseln und die Geschichte jener sechs Tage nach dem Brand von Matheson wird wieder lebendig.
Zwischen Charlie und Marie-Desneige entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte, die die beiden alten Leute noch einmal aufblühen lässt – beide bekommen „Ein Leben mehr“ geschenkt. Auch die Fotografin bekommt – allerdings auf andere Weise – ein neues Leben geschenkt. Denn Charlie ist ihr Interesse für Boychuck und seine Bilder wie auch das für Tom, Marie-Desneige und ihn selbst nicht geheuer. Mit einem unwirschen „Hast du kein eigenes Leben?“, setzt er bei ihr etwas in Gang. Und Tom? Auch bei ihm reift eine Entscheidung.
Leben im Alter und Leben, das dem Tod die Stirn bietet, sind die Themen, die die Grundmelodie dieses Romans bilden. Tom und Charlie sind beide dem Tod schon einmal von der Schippe gesprungen. Beide sind sich bewusst, dass der Tod jederzeit einen neuen Anlauf nehmen kann.
„Der Tod ist ein alter Freund. Sie sprechen häufig von ihm. Er begleitet sie schon so lange, dass sie seine Nähe zu spüren meinen. Er belauert sie. Tagsüber zeigt er sich nicht, aber nachts kommt er aus seinem Versteck. Ihre morgendlichen Gespräche dienen auch dazu, ihn auf Abstand zu halten. Sobald sie seinen Namen aussprechen, ist er da, er mischt sich in das Gespräch ein, haut auf den Tisch, will alle Aufmerksamkeit, aber sie weisen ihn ab, verhöhnen ihn, manchmal beleidigen sie ihn sogar, sie schicken ihn fort, und er trollt sich wie ein Hund in die Ecke und kaut auf seinem Knochen herum. Er hat alle Zeit der Welt.“ (S. 87)
Für Marie-Desneige dagegen beginnt das Leben erst im hohen Alter so richtig. Sie ist fest entschlossen, ihre letzten Jahre zu genießen – und macht das Charlie auf charmante Weise klar. Deshalb ist dieser Roman ein lebensfrohes Buch, obwohl der Tod „in allen Geschichten lauert“, wie es am Ende heißt. Jocelyne Saucier beglückt darin ihre Leser/innen mit liebenswert-kantigen Figuren, grandiosen Naturbeschreibungen, einer klug angelegten Struktur, die die Geschichte der Figuren aus wechselnden Perspektiven erzählt, und einer melodiösen Sprache.
Jocelyne Saucier: Ein Leben mehr. Roman. Berlin: Insel 2015, 191 S. – ISBN 978-3-458-17652-7 – 19,95 €.
Rezension auf Literaturen -> http://literatourismus.net/2015/08/jocelyne-saucier-ein-leben-mehr/