Tagesabschluss ist ein Wort, bei dem ich zuerst an meine Zeit bei der früheren Deutschen Bundesbahn denken muss. Im Tagesabschluss rechneten wir damals die Einnahmen zusammen, die im Laufe des Tages in der Fahrkartenausgabe anfielen. Jeder Kaufmann macht das und – wie Cordula und Ottmar Leidners Buch „Ein hörendes Herz“ zeigt – auch viele Christen. Bei ihnen heißt das „Tagesrückblick“. Das Wort ist ein kleines bisschen anders, aber der Sinn ist der gleiche: Bilanz ziehen, wenigstens kurz. Borromäusverein und Sankt Michaelsbund empfehlen das Buch als Religiöses Buch des Monats.
„Danke – Pardon – Wir beide bis morgen.“ So kurz und bündig kann der Tagesrückblick ausfallen, auch als „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ bekannt, das auf das „Examen“ von Ignatius von Loyola zurückgeht. Monika Sander sucht auf diese Weise wenigstens kurz noch Kontakt mit Gott, wenn sie todmüde ins Bett fällt und zu keinem klaren Gedanken mehr fähig ist. Sie stand viele Jahre dem französischen Zweig der Gemeinschaft christlichen Lebens (GCL, die Laienorganisation der Jesuiten) vor. Natürlich geht es auch ausführlicher, dann führt sie sich abends den Tag vor Augen, die gelungenen und die misslungenen Momente und wirft einen Blick auf den kommenden Tag. Ob ausführlich oder knapp: der Tagesrückblick hat im Laufe der Jahre eine feste Verbindung zu Gott wachsen lassen.
Monika Sanders Erfahrungsbericht ist eine der Stimmen, die Cordula und Ottmar Leidner in ihrem Buch zusammengestellt haben. Diese Berichte beleuchten die vielen, vielen Möglichkeiten, das „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ in den Alltag zu integrieren. Zu Wort kommen Geistliche und Laien, Väter und Mütter, die mit ihren Kindern beten, Studentinnen, Ingenieure, Manager und Rentner, Katholiken und Protestanten – kurz: Menschen wie du und ich. Besser als jede kluge Abhandlung über die Variationsmöglichkeiten des Tagesrückblicks zeigen ihre Berichte, wie sich diese Gebetsform unkompliziert in den Alltag integrieren lässt und das Leben ganz unterschiedlicher Menschen bereichert hat.
Am Anfang des Buches bündeln zwei Beiträge geschickt und eingängig die verschiedenen Erfahrungen, die in diesem Buch zur Sprache kommen, und führen in diese Gebetsform ein. Der Jesuit Willi Lambert macht sich Gedanken über den tieferen Wert des Gebets für das Mensch-Sein: „Nur wer Pausen macht, kann pausenlos leben. Nur wer unterbricht, wird zum ganzen Menschen.“ Denn darum geht es: im Kontakt mit Gott zu sich finden, aussteigen aus dem Hamsterrad Leben, das eigene Leben als Leben in der Gegenwart Gottes wahrnehmen.
Im zweiten Beitrag stellen Cordula und Ottmar Leidner die Geschichte des Tagesrückblicks vom „Examen“ des hl. Ignatius zur heutigen Form als „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ vor. Dabei ist ihnen ein lebensbejahendes, den Menschen und sein Leben wertschätzendes Verständnis dieses Gebetes sehr wichtig. Denn auch wenn zu dem Gebet das Eingeständnis der eigenen Fehler und der eigenen Unerlöstheit gehört, zielt es doch keinesfalls darauf, dem Beter ein schlechtes Gewissen zu machen. Im Hintergrund steht nicht das Zerrbild eines strafenden Buchhaltergottes, sondern der Barmherzige Vater. Ihm stellen sich die Beter „ohne die übliche Deckung“, schreiben die Leidners, „das macht nicht wirklich ‚Spaß‘. Aber genau darin, im aktiven Zugehen auf den Herrn, im bewussten Verweilen in seiner Präsenz, öffnet sich auch die verwandelnde Kraft“ dieses Gebets. Es geht um (inneres) Wachstum, um Menschwerdung, nicht um Schuldgefühle.
Aus den Texten in diesem Buch spricht ein großes Zutrauen in die Kraft dieses Gebetes, auch ein Staunen über die Erfahrungen, die dadurch möglich wurden. Sowohl die einführenden Texte als erst recht die Erfahrungsberichte wecken den Wunsch, den Tagesrückblick auszuprobieren. Wer bisher vergeblich nach einer Form der geistlichen Vertiefung des Alltags gesucht hat, die sich leicht den eigenen Bedürfnissen anpassen und in den eigenen Alltag integrieren lässt, wird vielleicht im „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ fündig. Die Adventszeit bietet sich geradezu dazu an, diese Gebetsform auszuprobieren. Christoph Holzapfel
Cordula und Ottmar Leidner: Ein hörendes Herz. Jeden Tag Gottes Spuren finden. Würzburg: Echter 2012. (Ignatianische Impulse, Bd. 57) – 112 S.; 8,90 €. Dieses Buch können Sie bei der borro medien gmbh kaufen.
(Als „Religiöses Buch des Monats“ benennen der Borromäusverein, Bonn, und der Sankt Michaelsbund, München, monatlich eine religiöse Literaturempfehlung, die inhaltlich-literarisch orientiert ist und auf den wachsenden Sinnhunger unserer Zeit antwortet.)