Dies ist einer der feinen, stillen Romane, die im Ozean der Neuerscheinungen gerne übersehen werden. Eine Perle, die dem, der sie findet, viel Freude macht.
Italien, im Sommer 1979. In der Toskana macht sich die Bäuerin Luisa vor Tau und Tag auf den Weg, um ihren Mann im Gefängnis zu besuchen. Sie hat noch schnell die Kühe gemolken; den Hof kann sie dann getrost in der Obhut der älteren ihrer fünf Kinder lassen, die inzwischen selbst für sich und ihre jüngeren Geschwister sorgen können. Darauf ist sie stolz. Am Vortag hat sie 153 Ravioli für ihren Mann gemacht. In der Morgendämmerung geht sie die staubige Straße entlang Richtung Dorfplatz, wo der Bus zum nächsten Bahnhof abfährt. 24 Stunden später geht sie in Süditalien an Bord einer Fähre, die sie zu einer Gefängnisinsel bringt. Ihr Mann sitzt dort ein, seit er in einem anderen Gefängnis einen Wärter erschlagen hat. Wenn sie ehrlich ist, vermisst sie ihren Mann nicht, denn sein Jähzorn, der ihn hinter Gitter gebracht hat, traf auch sie und ihre Kinder.
An Bord wird sie von Paolo beobachtet, der auf der Insel seinen Sohn besucht. Bis seinem Sohn der Prozess gemacht wurde, war er Philosophielehrer. Doch seit sein Sohn als Terrorist und Mörder verurteilt ist, sieht er sich nicht mehr dazu in der Lage, vor seine Schüler zu treten. Er hat keine Kraft mehr dazu. Seine Frau Emilia ist schon vor einigen Jahren gestorben, vor Kummer eingegangen wie eine Primel, die nicht regelmäßig gegossen wird. Obwohl er seinen Sohn weder versteht noch billigen kann, was er getan hat, besucht er ihn, so oft er kann.
Im Unterdeck der Fähre begleitet Pierfrancesco Nitti, den seine Kollegen nur Nitti nennen, einen Gefangenen auf die Insel. Seit 10 Jahren arbeitet er dort Im Strafvollzug. Mit der Zeit hat er eine Mauer des Schweigens um seine Erlebnisse im Gefängnisalltag errichtet, anders würde er es gar nicht aushalten. Doch er zahlt dafür einen hohen Preis, denn diese Mauer trennt ihn auch von seiner Frau und seinen Kindern. Nitti, Paolo und Lusia sind drei der Hauptakteure des Romans. Ein vierter braut sich gerade über dem Mittelmeer zusammen: ein schwerer Sturm.
Nach der Ankunft stellt sich heraus, dass Paolo und Luisa das gleiche Ziel haben: das Hochsicherheitsgefängnis im entlegensten Winkel der Insel. Der Besuch bei Mann und Sohn verläuft wie immer in beklemmender Atmosphäre. Besucher und Häftlinge sind durch eine Glasscheibe getrennt, eine Distanz, die nicht zu überwinden ist. Luisa darf ihrem Mann die 153 Ravioli nicht geben, ein Beamter schmeißt sie in den Mülleimer.
Auf dem Rückweg zum Hafen passiert es dann. Auf der kurvenreichen Strecke entlang der Steilküste, auf der einen Seite die Felswand, auf der anderen in der Tiefe das Meer, kommt ihnen ein Jeep entgegen. In wilden Schlangenlinien kurvt er über die Straße. Der Fahrer des Transporters kann gerade noch ausweichen, der Jeep prallt gegen die Felswand.
Zum Glück ist nur der Fahrer leicht verletzt. Außer ihm befanden sich noch Nitti und der Häftling im Auto, den er schon auf der Fähre begleitet hatte. Dass dem Häftling Blut aus der Nase rinnt, hat nur indirekt mit dem Unfall zu tun.
Die Gefängniswärter beschließen, zunächst den Gefangenen in sein neues Zuhause zu bringen und sich dann um Paolo und Luisa zu kümmern. Ihre Fähre hat da längst abgelegt, um noch vor dem Sturm den sicheren Hafen auf der anderen Seite der Meerenge zu erreichen. Sie sitzen auf der Insel fest.
Bis hierher könnte es auch der Auftakt zu einem Thriller sein, der die abgeschiedene Insel für ein Hochspannungs-Szenario nutzt. Doch Francesca Melandri hat anderes im Sinn. Sie inszeniert die Begegnung von drei einander vollkommen fremden Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen wie in einem dunklen Tunnel leben, gefangen im grauen Alltag, allein mit ihrer Trauer, ihrer Scham über die Situation und mit ihren Ängsten. Die Gesten, Worte und Begegnungen dieser Nacht und des folgenden Morgens lassen diese drei Menschen den Lichtschimmer vom Ende des Tunnels sehen.
Als sie am nächsten Tag zum Hafen zurückgehen, wird Paolo mit einem Mal bewusst, dass sich über Nacht etwas verändert hat:
„Das Wasser, das diese Insel umgab, diese Sonne, die seine Farben zum Leuchten brachte, dieser Himmel, an dem die Seevögel kreisten, das alles gehörte zu dem gleichen Mittelmeer, das auch gegen den Strand von Framura schlug, es war die gleiche Sonne, die es erwärmte, der gleiche Himmel, der sich über ihn, Emilia und ihren Sohn gespannt hatte, als sie noch glücklich waren. Und zum ersten Mal seit er diese Hochsicherheitsstrafanstalt besuchte, kam ihm dies nicht wie eine Verhöhnung des Schicksals vor.
So unverständlich, widersinnig es auch sein mochte: Jetzt war es wie ein Geschenk für ihn.“
Was diese Nacht für sie bedeutete, stellen sie erst 30 Jahre später fest.
Francesca Melandri erzählt in einer bildreichen, knappen und dadurch eindringlichen Sprache, wie die stürmische Nacht Luisa, Paolo und Nitti verändert. Sie schildert das Geschehen aus der jeweiligen Perspektive ihrer drei Figuren; die Perspektiven gehen ineinander über wie Überblendungen in einem Film. Die tragischen Lebensgeschichten ihrer Figuren sind überzeugend, sie bettelt nicht um Mitleid, sondern erzeugt Respekt für ihre Haltung. „Über Meereshöhe“ ist ein Roman über die heilende Wirkung von Worten, Gesten und Begegnungen, über Wunder, die mitten im grauen Alltag geschehen können, und der Welt plötzlich ihre Farben zurückgeben.
Francesca Melandri: Über Meereshöhe. Roman. München, Blessing 2012. Dieses Buch können Sie bei der borro medien gmbh kaufen.