Ein Mann, ein Brief, ein Paar Segeltuchschuhe und 1000 Kilometer quer durch England: Rachel Joyce erzählt in ihrem Debüt „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“eine berührende Geschichte von Aufbruch, Schuld und Vergebung.
Alles beginnt mit einem Brief. Ein Brief von einer Arbeitskollegin namens Queenie, von der Harold seit zwanzig Jahren nichts mehr gehört hat. Damals verschwand sie von einem Tag auf den anderen, ohne ein Wort des Abschieds. Jetzt schreibt sie einen Abschiedsbrief. Queenie hat Krebs, die Ärzte können nichts mehr tun, sie wird in absehbarer Zeit sterben.
Harold ist mit dem Brief völlig überfordert. Er ist ein schüchterner Mensch, im Umgang mit anderen unsicher und gehemmt. Wie soll er reagieren? Was schreibt man einem Menschen, der im Sterben liegt?
Zudem löst der Brief eine Flut an Erinnerungen aus, die er lieber aus seinem Gedächtnis gelöscht hätte. Mit seiner Frau Maureen kann er sich nicht beraten. Seit Jahren schon herrscht Funkstille zwischen ihnen, ihre Ehe gleicht einer vertrockneten Pflanze, die kaum noch an die leuchtenden Farben von Blüten und Blättern erinnert. Über die wirklich wichtigen Dinge in ihrem Leben reden Harold und Maureen schon lange nicht mehr.
An Queenie schreibt er schließlich einen Zweizeiler. „Liebe Queenie, danke für Ihren Brief. Es tut mir sehr leid. Alles Gute – Harold“. Als er den Brief zum Briefkasten trägt, merkt er, dass diese zwei Zeilen nicht ausreichen, weder im Verhältnis zu der Nachricht, auf die er damit antworten will, noch im Verhältnis zu dem, was vor zwanzig Jahren geschehen ist. Schuldgefühle lasten auf ihm und er läuft am Briefkasten unten an der Straßenecke vorbei zum Postamt. Auch dort läuft er schließlich weiter, immer weiter, am Ende werden es mehr als 1000 Kilometer sein, die er vom englischen Südwesten bis hinauf an die schottische Grenze läuft, wo Queenie in einem Pflegeheim untergebracht ist. Er will sie retten. Außerdem hofft er auf diese Weise, einen Teil der Schuld abtragen zu können. Von unterwegs schreibt er Postkarten an seine Freundin (Ich komme, halte durch) und an seine Frau.
Der Weg zu Queenie wird zu einem schmerzhaften Reinigungsprozess, durch den er schließlich zu sich selbst findet. Unterwegs tauchen lange verdrängt Erinnerungen auf und Harold beginnt, sich mit seinen Schuldgefühlen und mit seiner Vergangenheit, mit dem Verhältnis zu seiner Frau und zu seinem Sohn auseinanderzusetzen. In einer Art Selbsttherapie gelingt ihm die Versöhnung mit sich selbst, die Voraussetzung für eine Versöhnung mit seiner Frau und ihrer gemeinsamen Geschichte in der Vergangenheit ist – von der der Leser erst nach und nach genaueres erfährt.
Harold begegnet unterwegs hilfsbereiten Menschen, die ihn ermutigen und unterstützen. Als die Presse auf seine Geschichte aufmerksam wird, schließen sich ihm ungefragt andere Menschen an, für die er zum Hoffnungsträger, ja geradezu zur Kultfigur wird. Harold versteht nicht, was diese Menschen in ihm sehen, aber er begegnet ihnen mit Respekt.
Von Weitem erinnert der Plot an eine Episode aus dem Film „Forest Gump“, doch außer dem Motiv, einfach so loszulaufen, haben die beiden Geschichten nicht viel gemeinsam. Forest hat kein Ziel und hört schließlich einfach auf zu laufen. Harold dagegen hat ein klares Ziel: Er will zu Queenie und er hofft, ihr damit Lebensmut geben und eine alte Schuld abtragen zu können.
Harolds Aufbruch bringt auch seine Frau Maureen dazu, über ihr Leben und ihre Ehe nachzudenken. Wie Harold erkennt sie, wo sie Fehler gemacht und Schuld auf sich geladen hat. Und wie Harold hofft sie, dass sie beide eine Chance auf einen Neuanfang haben. Rachel Joyce hat ein schönes Bild gefunden, um ihre Veränderung deutlich zu machen: Eines Tages hängt Maureen die Vorhänge ab, die den freien Blick nach draußen verhindern. Sie wäscht sie und verschenkt sie an eine Wohltätigkeitsorganisation. Wie Harold erweitert auch sie ihren Horizont.
Rachel Joyce erzählt bildreich und farbig eine berührende Geschichte von Aufbruch und Neubeginn, von Schuld und Vergebung, von Leben und Tod. Sie beginnt nicht umsonst im Frühling und endet im Sommer. Die religiöse Dimension des Romans ist nicht nur in diesen Themen präsent, Harold und Maureen sprechen sie auch direkt an. Allerdings nicht als Glaubende oder am Glauben Verzweifelnde, sondern eher als Zaungäste, die sich damit begnügen, am Zaun zu verharren. „Es war zu spät, um jetzt noch gläubig zu werden“, denkt Maureen, als eine Ordensschwester aus Queenies Pflegeheim sie zum Abendgebet einlädt. Dennoch lauschen sie dem Gesang der Schwestern.
Joyce hat ihre Geschichte äußerst geschickt konstruiert. Für Spannung sorgt zum einen, dass sie nur scheibchenweise preisgibt, welch’ traurige Geschichte sich zwanzig Jahre vor Harolds Aufbruch abgespielt hat. Zum anderen hält sie die Frage wach, ob Harold überhaupt ankommt und ob Queenie das noch erlebt. Auch wenn es abgedroschen klingen mag: Dieser Roman ist zum Weinen schön, seine Lektüre macht glücklich. Christoph Holzapfel
Rachel Joyce: Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry. Roman. Frankfurt, Krüger 2012, 18,99 €. Dieses Buch kaufen (bei der borro medien gmbh)