Am Ende bleiben die Zedern

Als Samir das letzte Mal mit seinem Vater zusammen war, erzählte der ihm eine Gute-Nacht-Geschichte. Da war Samir acht Jahre alt und liebte dessen Geschichten um Abu Yussef und das Dromedar Armir. Als sein Vater sich an diesem Abend auf sein Bett setzte, erzählte er von Abu Yussefs Schatz in den Bergen des Libanon. Als Samir eingeschlafen war, verließ sein Vater die Familie. Die Wunde, die er hinterließ, vermochte Samir über zwei Jahrzehnte nicht zu schließen, der Schmerz über diesen Verlust fraß ihn von innen auf. – Ein wunderschöner, warmer, trauriger Roman – mehr Adjektive müssen es nicht sein. Ganz am Ende, auf den letzten Seiten, musste ich tatsächlich ein paar Tränen verdrücken. Pierre Jarawan kann nicht nur sehr melodisch und bildreich schreiben, er versteht es auch, Emotionen zu transportieren. Bei mir funktionierte das sogar, obwohl ich mit dem Ende nicht einverstanden bin.

Aber der Reihe nach. Samirs Eltern kamen 1983 aus Beirut nach Deutschland, wo es ihnen sehr schnell gelang, sich eine neue Existenz aufzubauen. Samirs Vater liebte den Libanon und schwärmte seinem Sohn vor, wann immer sich die Gelegenheit bot. „Wie immer, wenn er über den Libanon sprach“, erzählt Samir, „klang seine Stimme beschwert mit geheimen Sehnsüchten und von einem Unterton durchdrungen, als rede er von einer Geliebten, die er sehr vermisste.“ (22)

Zusammen mit seinen Eltern flohen auch Hakim und seine Tochter Yasmin, zwei Jahre älter als Samir, vor dem Bürgerkrieg. Obwohl sie nicht verwandt waren, bildeten sie eine Familie und wohnten im selben Haus. Damit ist auch ein Unterthema angeschlagen, das den Roman begleitet, die Welt von Menschen, die unfreiwillig ihre Heimat verlassen haben. Nachdem Samirs Vater verschwunden war, kümmerte sich Hakim um die Frau und die Kinder seines Freundes. Und als plötzlich auch noch Samirs Mutter starb, nahm er den damals 15-Jährigen zu sich, während seine kleine Schwester in eine Pflegefamilie kam.

Für Samir ist das Verschwinden seines Vaters untrennbar mit einem Dia-Abend und einigen mysteriösen Anrufen verbunden. Bei diesem Dia-Abend zeigte der Projektor ein Bild von seinem Vater als jungem Mann in der Uniform der Forces Libanaises, einer der Bürgerkriegsparteien. Erschrocken starrten Samirs Eltern auf das Bild; Samirs Mutter fragte ihren Mann völlig entgeistert, warum um alles in der Welt er dieses Bild aufgehoben habe. Kurz darauf ging Samir abends ans Telefon, doch auf der anderen Seite herrschte Schweigen. Danach klingelte das Telefon immer mal wieder und sein Vater verließ jeweils kurz darauf die Wohnung. Samir erklärte er einmal, seine Mutter anrufen zu wollen. Warum sein Vater das nicht vom Telefon in der Wohnung aus konnte, verstand er nicht.

Herauszufinden, was es mit dem Dia auf sich hatte wurde für Samir zur fixen Idee. Warum war sein Vater verschwunden und wo im Libanon hielt er sich auf (dass er in den Libanon zurückgegangen war, stand für ihn außer Frage)? Als junger Erwachsener riskierte er seinen Job als Bibliothekar, weil er sich nicht nur durch die Zeitungen aus der Bürgerkriegszeit wühlte, sondern auch Blätter herausriss, statt Kopien zu machen. Doch erst, als Yasmin nach ihrem Studium wieder in sein Leben tritt und die beiden in eine gemeinsame Zukunft aufbrechen, bringt Samir den Mut auf – und Yasmin sorgt für den nötigen Druck – endlich in den Libanon zu reisen, um den Spuren nachzugehen, die er gesammelt hat.

Dort trifft er Menschen, die er als Figuren aus den Geschichten seines Vaters kennt, kann tatsächlich das Rätsel um das Dia lösen, doch den Grund für das Verschwinden seines Vaters findet er erst nach einer dramatischen Wende. Wie bei einer Schnitzeljagd wird er von Mensch zu Mensch weitergereicht und reist mit dem Libanesen Nabil (Kandidat für den Lieblings-Nebendarsteller), der sich als sein Fahrer Geld verdient, kreuz und quer durch den Libanon, die Leser/innen staunend im Schlepptau.

Sein erstes Ziel: die Zedern.

„Die Zedern sind wirklich atemberaubend. Nabil lässt mich vorausgehen und trabt mir hinterher, die Hände auf dem Rücken verschränkt, als würde er meditieren im Gehen. Eine Zeit lang kickt er einen Stein vor sich her. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ich habe mir diesen Moment so oft ausgemalt. Unzählige Male habe ich mich selbst hier entlanggehen sehen, als säße ich auf dem Ast einer Zeder und könnte mich gleichzeitig selbst beobachten. Und jetzt, wo ich tatsächlich hier stehe, auf dieser Weichen, dunkelbraunen Erde, erkenne ich, wie ähnlich das Bild meinen Träumen ist. Um mich herum die Zedern, teilweise mehr als vierzig Meter hoch. Ihre Stämme sind so dick, dass man ein ganzes Fußballteam bräuchte, um sie zu umarmen. Ihr würziger Duft macht mich trunken. Sie stehen da, als wachten sie über das Land. Weise und in Würde gealtert, seit Hunderten von Jahren. …
Ich kann mich nicht dagegen wehren, ich sehe Vater vor mir an einem Baumstamm lehnen, wie er, einen Grashalm im Mundwinkel, auf die Stadt hinabblickt. …
Später sitzen wir im Gras an einen dicken Stamm gelehnt und schauen aufs Meer. Nabil hat Teigtaschen aus dem Auto geholt.
‚Hat meine Frau gemacht‘, sagt er und reicht mir eine. Sie ist mit Spinat und Schafskäse gefüllt.
Ich denke an Mutter und daran, wie sie diese Taschen herstellte, während ich aufgeregt an ihrer Schürze zupfte und mir, wenn sie nicht hinsah, Schafskäse in den Mund schaufelte, um heimlich kauend und glücklich aus der Küche zu schleichen, bevor sie es bemerkte.
‚Was haben wir heute noch vor?, fragt Nabil.
Mir gefällt, dass er wir sagt. Erneut wird mir bewusst, dass ich keinen Plan habe. Nur eine Idee, von der ich nicht weiß, wohin sie mich führt.
‚Ich muss nach Zahlé‘, sage ich.“ (122; 125)

Es ist nicht allein die Geschichte von Samir, der seinen Vater sucht, oder besser die Geschichten, denn Jarawan lässt Samir aus seiner Kindheit erzählen, aus seiner Zeit als junger Erwachsener und Bibliothekar und von seiner Reise in den Libanon, die das Buch so liebens- und lesenswert machen. Auch Sprache und Struktur des Romans haben es in sich. Die Sprache ist melodisch, erzeugt plastische Bilder und Vorstellungen von Gerüchen (der Duft der Zedern, der Geruch in der Wohnung der Eltern, als die Welt noch in Ordnung war, die muffige Luft in Samirs erster Wohnung, die eher einer Höhle glich).

Jarawan ist ein meisterhafter Spurenleger und es ist eine helle Freude, sie zu finden, was allerdings erst beim zweiten Durchgang gelingt (der sich schon deshalb lohnt!).

Das Merkwürdige ist: je besser mir ein Buch gefällt, je mehr ich mir wünsche, dass ganz viele Menschen es lesen, desto schwerer fällt es mir, Worte zu finden, die das bewirken können.

Mit diesem Buch hat es dann noch etwas Seltsames auf sich. Das Ende gefällt mir nämlich nicht – und trotzdem habe ich am Ende – ich saß im Zug, kurz vor Bonn Hauptbahnhof – ein paar Tränen verdrückt. Ich will nicht verraten, wie und womit der Roman endet, aber die letzte Wendung hat mich nicht überzeugt, obwohl sie – wie ich hinterher festgestellt habe – von langer Hand vorbereitet war. Vielleicht grenzte sie mir zu sehr an Kitsch oder mir waren meine eigenen Emotionen nicht geheuer. Trotzdem: Jarawans Roman ist wunderschön, man folgt ihm und Samir gerne nach Beirut, spaziert mit ihm unter den Zedern und genießt den Ausblick aufs Mittelmeer.

Cover des Berlin-VerlagsPierre Jarawan: Am Ende bleiben die Zedern. Roman. Berlin, Berlin-Verl. 2016. – 22,00 €. Zur Verlagswebseite

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