Wir in Kahlenbeck

Cover KahlenbeckDieser Roman ist eine Abrechnung. Eine Abrechnung mit der als erdrückend empfundenen katholischen Moralerziehung, wie sie in den frühen achtziger Jahren mancherorts noch anzutreffen war. Christoph Peters beschreibt diese Erziehung und das dahinter stehende Gedankengut eindringlich, erschreckend düster und doch nicht ohne Humor.

Kahlenbeck ist ein katholisches Internat, weit ab vom Schuss am Niederrhein gelegen, nahe der holländischen Grenze, ähnlich aus der Welt gefallen wie Hogwards. Doch geben hier statt Zauberern Geistliche und Ordensschwestern den Ton an, statt in Magie üben sich die Jungen in Latein und Griechisch, Mathe und Physik, dazu sollen sie die Gottesdienste besuchen, regelmäßig beichten, beten und, ganz wichtig, sich in Askese üben.

Wer sich am Niederrhein auskennt oder in der Landschaft der katholischen Internate, weiß, Kahlenbeck ist der literarische Zwilling des Collegium Augustinianum Gaesdonck bei Goch. Die Kritik hat den Roman deshalb in die Schublade „Internatsroman“ gesteckt (siehe hier und hier) und mit Salingers „Fänger im Roggen“ verglichen oder mit Paul Ingendaays Roman „Warum du mich verlassen hast“, der ebenfalls auf der Gaesdonck spielt. Doch in diese Schublade gehört Peters Roman nicht.

Liebe ist Todsünde

Aber der Reihe nach. Peters schildert in seinem Roman zwei Jahre im Leben des 14, später 15-jährigen Internatsschülers Carl Pacher. Daran wäre nichts Besonderes, wenn das typische Gefühlswirrwarr der Pubertät bei Carl nicht zusätzlich noch mit oft genug verstörenden religiös-moralischen Vorstellungen imprägniert wäre, die ihm Elternhaus und Schule mitgeben. Dass ihn diese Vorstellungen nicht froh machen, versteht sich von selbst. Denn durch diesen Filter werden die ohnehin irritierenden pubertären Phantasien bedrohlich. Als er sich in Ulla verliebt, ein Kahlenbecker Küchenmädchen, schwankt er zwischen Glücksgefühlen und Gewissensnöten, weil alles, was mit Liebe und Verliebtheit zu tun hat, vom Teufel kommt und Todsünde ist, wie ihm von Lehrern und Mitschülern eingetrichtert wird.

Seine Liebe zu Ulla ist nicht rein, glaubt er. „Sie wird überlagert und untergraben von etwas Dunklem, einem grausamen Tier, das jederzeit ausbrechen, die Herrschaft über ihn an sich reißen kann … Im Spiegelbild sieht Carl niemand anderen als sich selbst, die Heimstatt der Bestie: Er ist ein Verworfener. Wenn sein Leben jetzt enden würde, hätte er die ewige Verdammnis mehr als verdient.“

Carl sieht sich unter dem Eindruck jener moralischen Maßstäbe selbst als Versager. Er hält sich für „lüstern, undankbar, hochmütig, boshaft“, sein Herz sei ein „Dreckloch“, sagt er seinem Freund Bart. Den Hochgefühlen der Liebe zu Ulla folgt daher die eiskalte Dusche der katholischen Moral auf dem Fuße, sei es in Form des Beichtspiegels („Lasse ich mich treiben und von der sexuellen Begierde beherrschen? Habe ich die Selbstbefriedigung gesucht? Habe ich die voreheliche Keuschheit verletzt? Habe ich ein unerlaubtes Verhältnis unterhalten?“) oder durch ein Gespräch mit den Oberstufenschülern Kuffel und Holzkamp, die ihn regelmäßig in höchste Gewissensnot bringen.

Existenzialismus und Trachtenjoppen

Kuffel und Holzkamp sind neunmalkluge Scheißkerle mit einer Vorliebe für rechtskatholisches, vorkonziliares Gedankengut. Ihr philosophisch-theologisches Geschwätz drängt Carl in die Defensive, immer wieder – was zumindest Holzkamp offensichtlich genießt. Trotzdem sucht Carl immer wieder ihre Nähe. Nichts charakterisiert die beiden besser als die Szene, in der sie über den neuen Spiritual herziehen, der in ihren Augen ein Modernist ist. Spiritual Lenders fährt einen bordeauxfarbenen alten Citroën, was sie als Ausweis von Dekadenz und Existenzialismus sehen, des priesterlichen Amtes völlig unwürdig. Ihr Vorwurf an Lenders lautet, dass er mit Geld um sich werfe, schließlich kosteten ihn die Reparaturen an seinem Auto ein Vermögen, außerdem trag er teure Markenklamotten. Darauf wagt Carl einzuwenden:

„‚Aber hat Winfried [Holzkamp] … Winfried, hast du dir nicht gerade eine Trachtenjoppe mit Hirschhornknöpfen für dreihundertfünfzig Mark gekauft?‘
‚Ich wüßte nicht, was gegen diese Jacke spräche. Das ist normale Herrenbekleidung, in einer ordentlichen Qualität.‘
‚In Bayern vielleicht normal.‘
‚Formschön und zweckorientiert.‘
‚Aber auch sauteuer und das Gegenteil von unauffällig.‘
‚Wollen wir jetzt vergleichen, wessen Kleider wieviel gekostet haben und ob das mit dem Evangelium vereinbar ist?‘“

Zu solchen Dialogen, die so unversehens ins Absurde kippen, kommt es immer wieder. Sie erzeugten bei mir zuerst den Wunsch, Kuffel und Holzkamp mit der Faust eine Gesichtsmassage zu verpassen, um anschließend über den untergründigen Witz dieser Passagen zu schmunzeln.

Gekonntes Spiel mit Klischees

Als Carl Kuffel erzählt, dass er sich in Ulla verliebt hat und sie treffen wird, redet der ihm ins Gewissen: „‚An deiner Stelle würde ich erst einmal gründlich prüfen, ob es sich bei deinen Wallungen nicht um bloße Maskierungen des Geschlechtstriebs handelt. Das gleiche gilt natürlich auch für die Dame: Meint sie wirklich dich in deinem umfänglichen Menschsein, oder ist sie lediglich auf die Befriedigung ihrer Lüsternheit aus? Es gibt wenig, was der Teufel so vollendet beherrscht, wie unsere an sich guten Regungen in seine eigenen Zerrbilder zu verwandeln.‘“

Kuffel entpuppt sich als schwul und gesteht Carl, dass er in ihn verliebt ist. Dass Schwulsein nicht in sein konservatives Gedankengebäude passt, plagt ihn, doch er dreht es solange durch die philosophisch-theologische Mühle, bis ein neutraler Brei herauskommt, der ihn nicht mehr schmerzt.

Natürlich ist der schwule Konservative ein Klischee, doch Peters spielt gekonnt mit diesem und anderen Klischees, überzeichnet sie, sodass sie zu Satire werden. Unwillkürlich muss der Leser schmunzeln. Und wer schon mit solchen Typen zu tun hat, wird feststellen, dass Peters Charakterisierung voll ins Schwarze trifft. Jedenfalls ging es mir so.

Präses Roghmann, der Leiter der Schule, befeuert Carls Nöte ebenfalls. Er verkörpert die unhinterfragbare Autorität eines Kirchenmannes; unter den Eltern steht er sogar in dem Ruf, ein heiligmäßiger Mann zu sein. Carl hat Angst vor seinem Blick, der alles zu durchdringen scheint und die leisesten Regungen im Innern seiner Schüler wahrnimmt. Gleichzeitig respektiert er ihn ehrfürchtig. Als der Präses erfährt, dass Carl sich bis spät in die Nacht auf dem Zimmer seines Freundes Bart herumgetrieben hat, bestellt er die beiden zum Verhör. Er wittert unzüchtige Handlungen und bedrängt Carl, ob sie sich gegenseitig berührt hätten. Carl kann gar nicht glauben, dass Roghmann so eine Frage stellt. Obwohl er sie verneint, bohrt Roghmann weiter und schon entsteht erneut ein absurder Dialog, der in der Bemerkung gipfelt: „‚Schlimm wird es erst, wenn man es mit Mädchen tut. Das ist eine der gefährlichsten Fallen des Teufels.‘“ Peters steigert diese Karikatur der katholischen Sexualmoral noch weiter, geradezu genüsslich lässt er den Präses über Sexbesessenheit schwadronieren, über Wachsamkeit und Gebetsleben.

Auch wenn das Verhör zugespitzt ist, eine Karikatur, so spiegelt es doch gängige katholische Moralvorstellungen. Vielleicht waren sie in den achtziger Jahren verbreiteter als heute, aber sie sind immer noch anzutreffen. Ich bin in diesen Jahren aufgewachsen, diese Vorstellungen und Carls Gedankengänge sind mir merkwürdig vertraut, obwohl ich diese Moralvorstellungen nicht von Zuhause mitbekommen habe. Sie lagen in der doch noch sehr katholisch geprägten Luft. Es hat lange gedauert, bis ich eine freiere Haltung dazu entwickeln konnte.

Abrechnung

Spätestens mit dem Verhör bei Roghmann, das sich auf den ersten hundert Seiten findet, wird klar, dass „Wir in Kahlenbeck“ eine Abrechnung ist. Allerdings ist es eine Abrechnung der leiseren Art. Es geht Peters ganz offensichtlich nicht um den Skandal, sondern um einen kritischen Rückblick auf diese Zeit. Er war selbst Schüler der Gaesdonck und beschreibt zwar überspitzt, aber doch zutreffend, was die schwüle Atmosphäre katholischer Erziehung Anfang der achtziger Jahre, geprägt von einer verklemmten, leibfeindlichen Sexualmoral und einem Angst machenden Gottesbild bei einem 15-Jährigen anrichten konnte. Der Gott von Präses Roghmann, Kuffel und Holzkamp ist der strafende Buchhaltergott, der die Menschen nach streng logischen und juristischen Kriterien behandelt, was meistens bedeutet, dass er sie straft. Für Barmherzigkeit ist da kein Platz, die Gerechtigkeit ist eine kalte, beamtenhafte Gerechtigkeit. Einmal versucht Spiritual Lenders, Carl in der Beichte Gott als Barmherzigen Vater nahezubringen, doch gegen den Buchhaltergott hat er damit keine Chance.

Zum Charakter der Abrechnung passt, dass die Grundstimmung des Romans eher grau ist, wie der zähe Hochnebel, der im Herbst oft tief über den niederrheinischen Wiesen und Feldern hängt. Auch die moralinsaure Atmosphäre trägt zu diesem Eindruck bei, die auch auf das Gemüt des Lesers über greift, was die Lektüre nicht gerade leicht macht. Doch belässt es Peters nicht bei dieser hoffnungslosen Atmosphäre, es gibt Anzeichen, dass der Hochnebel sich irgendwann auflösen wird. Spiritual Lenders diente gewissermaßen als Vorbote dieser Veränderung. Er steht für eine Generation von Geistlichen, die der Welt offener, mit weniger Vorbehalten begegnen, ganz wie Johannes XXIII. es bei der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils forderte. Dann stirbt Präses Roghmann und damit geht eine Ära zu Ende. Schließlich verlassen Kuffel und Holzkamp nach dem Abitur die Schule. Für Carl kann etwas Neues beginnen.

Ein Internatsroman ist „Wir in Kahlenbeck“ jedenfalls nicht, das Internatsleben spielt nur eine untergeordnete Rolle. Das Internat ist der Druckbehälter, ohne den diese Geschichte über die Wirkung der erdrückenden katholischen Moralvorstellungen nicht funktionieren würde. Denn nur in diesem engen, abgeschiedenen Rahmen in der westdeutschen Provinz war der soziale Druck Anfang der achtziger Jahre noch hoch genug, um diesen Moralvorstellungen Geltung zu verschaffen. Außerhalb befand sich die einst geschlossene katholische Lebenswelt längst in Auflösung.

Wenn man Peters Roman mit anderen vergleichen will, bieten sich deshalb z.B. die Romane von Ulla Hahn um Hildegard Palm an („Das verborgene Wort“, 2001, und „Aufbruch“, 2009). Darin beschreibt Hahn Hildegards Ablösung, ja Befreiung aus der engen, katholisch geprägten Lebenswelt ihrer Familie in den sechziger Jahren. Dieser Vergleich macht erst recht deutlich, dass es Peters um die katholische Erziehung geht, die er als einengend und Angst einflößend beschreibt. Ulla Hahn hat ihre beiden Romane als Bildungs- und Entwicklungsromane angelegt, Peters dagegen geht es einzig und allein um den Zusammenprall von katholischen Moralvorstellungen und den Wirren der Pubertät und der ersten Liebe. Um diesen Zusammenprall zu beschreiben, setzt er hauptsächlich auf Dialoge. Ich fand es anstrengend, das zu lesen, nicht weil Peters keine guten Dialoge schreiben könnte, sondern weil ich mich mit den kruden Gedankengängen und Carls moralischen Skrupeln herumgequält habe. Dennoch: Diese Anstrengung lohnt sich, auch wenn Peters keinen eingängigen, leicht zu lesenden Roman geschrieben hat, eher Schwarzbrot anbietet als Rosinenstuten. Er versteht es hervorragend, die schwüle, selbstgerechte und beklemmende Atmosphäre in Kahlenbeck zu beschreiben, sodass sie wie Weihrauchschwaden aus den Buchseiten aufsteigt und den Leser in der Kehle kratzt.

Peters Abrechnung verdient auch deshalb Aufmerksamkeit, weil er Vorstellungen beschreibt, die nicht mehr so präsent sein mögen, wie in den sechziger oder siebziger Jahren. Aber sie sind in den Köpfen derjenigen, die in dieser Zeit aufgewachsen sind und wirken dort bis heute nach. Merkwürdig, dass das bisher keinem Kritiker aufgefallen ist. Oder doch? Aber Carl Wilhelm Macke kann dem Roman nichts abgewinnen (siehe hier)

Christoph Peters: Wir in Kahlenbeck. Roman. München: Luchterhand 2012. Dieses Buch können Sie bei der borro medien gmbh kaufen.

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