Der Duft des Regens

Cover Duft des RegensDies ist einer dieser Romane, die sich wie eine Decke um die Schultern ihrer Leser legen und sie wärmen; wie gemacht für feucht-kalte Herbst- und Wintertage. Frances Greenslade lässt darin Maggie Dillon von der Suche nach ihrer Mutter Irene erzählen. Anfang der siebziger Jahre ließ sie Maggie und ihre Schwester Jenny bei Bekannten zurück und verschwand in den tiefen Wäldern des Chilcotins im Westen Kanadas.

Frances Greenslade kleidet Maggies Geschichte in eine betörend schöne Sprache mit ausdrucksstarken Bildern. Das muss ich gleich zu Beginn erwähnen, denn diese Sprache fesselte mich an ihren Roman, sog mich förmlich in die Geschichte hinein. Ihre Landschaftsbeschreibungen ließen die tiefen Wälder, die Seen, Berge und Täler im Westen Kanadas vor meinen Augen wie auf einem Panoramabild entstehen. Bei der Lektüre roch ich nicht nur den würzigen Duft des Regens, ich hörte ihn auch auf das Dach des Holzhauses der Dillons prasseln und gegen die Fenster schlagen. Dazu stieg mir der Geruch von frisch geschlagenem Holz, von Tannennadeln und feuchtem Laub in die Nase. Der Wind rauschte in den Bäumen und wenn von Schnee die Rede ist, hörte ich förmlich, wie still die Landschaft wird, wenn Schnee gefallen ist – und wie laut dann Schritte im Schnee knirschen.

Maggie schildert eine glückliche Kindheit in bescheidenen Verhältnissen. Ihr Vater Patrick arbeitete als Holzfäller in den umliegenden Wäldern. Die Familie wohnte in einem einfachen Holzhaus mit großem Garten, Strom gab es nur im Erdgeschoss, ihr Wasser holten sie in einem Blecheimer an einer Pumpe im Garten. Sie verbrachten viel Zeit im Freien, im Garten natürlich, und in den Wäldern rings ums Dorf. Irene ging mit ihren Töchtern zelten, sooft es ging. Dann erkundeten sie die alten Siedlerpfade, die vom Highway abzweigen, und entdeckten dabei verschwiegene Täler und einsame Seen.

Maggies Vater schien sie Jenny vorzuziehen. Immer wieder zog er nur mit ihr los und unterwies sie in der Kunst des Überlebens in der Wildnis. Er zeigte ihr, wie man einen wetterfesten Unterschlupf baut, schärfte ihr ein, wie sie sich zu verhalten hat, falls sie sich verläuft, und was sie unbedingt braucht, um in der Wildnis zu überleben, nämlich Kekse, Streichhölzer, einen Kerzenstummel und ein Messer. Jenny meint, Maggie sei für ihren Vater wie ein Sohn gewesen. Mit Jenny unternahm er nie solche Sachen, stattdessen schenkte er ihr eine Barbiepuppe.

Als Maggie zehn Jahre alt war, kam ihr Vater bei einem Arbeitsunfall ums Leben. In ihren Augen begann damit eine Serie von Schicksalsschlägen. Sie zogen aus ihrem bescheidenen Holzhaus aus und bei Rita, einer Freundin ihrer Mutter, ein, die auf einer einsamen Farm lebte. Ein geräumiges Holzhaus an einem See ist für Maggie der letzte Ort, an dem sie als Familie zusammenlebten, wenn auch ohne ihren Vater. Ihre Mutter buk einen Sommer lang Brot für ein Holzfällercamp und das Haus am See war ihre Basisstation.

Danach überwarf sie sich mit Rita. Maggie und Jenny brachte sie daraufhin bei früheren Freunden ihres Mannes unter – und verschwand. Sie habe einen Job als Köchin in einem Holzfällercamp, wo Kinder nicht erlaubt seien, erklärt sie den Geschwistern.

Und dann war sie fort. „Wir haben nicht versucht, sie zu finden“, schreibt Maggie voller Schuldgefühle. Ihre Mutter war verschwunden, „wie eine Katze, die eines Abends durch die Hintertür verschwindet und nicht mehr wiederkommt, und du weißt nicht, ob ein Kojote sie sich geschnappt hat oder ein Raubvogel oder ob sie krank geworden ist und es nicht mehr nach Hause geschafft hat. Wir ließen die Zeit vergehen, wir warteten voll Vertrauen, denn sie war immer eine wunderbare Mutter gewesen. Sie ist die Mutter, sagten wir uns wieder und wieder, zumindest in der ersten Zeit.“

Zunächst schickte sie den Mädchen noch Geld, doch das hörte irgendwann auf. Jenny und Maggie gewöhnten sich an den Alltag in ihrer Gastfamilie. Jenny fand sich schneller im Stadtleben zurecht als ihre Schwester. Maggie dagegen vermisste ihre Streifzüge durch die Wälder. In der Schule freundete sie sich nach einiger Zeit mit Vern an, einem Indianerjungen. Sie entdeckten bald, dass sie beide gern draußen in der Natur waren und erkundeten die umliegenden Wälder.

Vern und sein Onkel waren es schließlich auch, die Maggie halfen, als sie endlich, nach fast drei Jahren begann, nach ihrer Mutter zu suchen. Den Anlass dazu gab Jenny, die – inzwischen 16 – schwanger geworden war. Ihre Gastmutter schickte sie empört und aus Angst um ihren Ruf nach Vancouver in ein Heim für junge, ledige Mütter. Wider erwarten traf sie dort auf wohlmeinende Menschen, die ihr helfen wollten. Nach der Geburt bekam sie jedoch eine heftige Depression und schließlich beschloss Maggie, ihre Mutter zu suchen, in der Hoffnung, dass sie Jenny helfen könnte.

„Niemand wusste, wo sie [Mom] war, und vor allem schienen alle überzeugt zu sein, dass sie da, wo sie war, nicht gefunden werden wollte. Ich schätze, es gab einfach kein Gesetz dagegen, seine Kinder zu verlassen. Es war nur für uns ein Verbrechen. Und es geschah schleichend, wie die Ankunft des Winters. Du lässt dein Fahrrad draußen stehen, bis es eines Tages zugeschneit ist, und dann wird dir plötzlich klar, dass die Tage kurzer Hosen und übermütiger Radtouren vorbei sind, und es fällt dir schwer zu glauben, dass sie je wiederkommen.“

Maggie reist zurück in die Wälder und lässt sich von Rita und anderen Bekannten ihrer Mutter erzählen, was passiert ist. Schritt für Schritt kommt sie der Tragödie auf die Spur, die hinter dem Verschwinden ihrer Mutter steht und stößt dabei auch auf ein Familiengeheimnis.

Frances Greenslade hat Figuren erschaffen, mit denen ich gerne befreundet wäre. Mit Maggie und Vern ebenso wie mit Irene und Verns Onkel, der Maggie wie selbstverständlich hilft, was mich sehr berührt hat.

Handelt es sich wirklich um einen Roman über die Erwartungen an unsere Eltern, wie der Klappentext behauptet? Eher ist es eine Geschichte über den Verlust der Eltern, ihre Bedeutung für unser Leben und unsere Sehnsucht nach ihnen. Außerdem ist es ein Coming-of-Age Roman, der erzählt, wie Kinder groß werden und was sie brauchen, damit sie groß und stark und selbstständig werden.

Auf jeden Fall ist es ein wunderbar warmer Roman; seine Welt zu verlassen, fiel mir so schwer, wie an einem Wintermorgen unter der warmen Bettdecke herauszukommen und in die Kälte des Schlafzimmers zu treten.

Frances Greenslade, geboren 1961 in Ontario (Kanada), wuchs mit fünf Geschwistern auf der Niagara-Halbinsel auf. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Penticton, British Columbia, wo sie am Okanagan College Englisch lehrt. Der Duft des Regens  ist ihr erster Roman.

Ihre Webseite: http://www.francesgreenslade.com/index.html – ihr Blog: http://greensladevoyage.blogspot.ca/

Frances Greenslade: Der Duft des Regens. Roman. Hamburg, Mare 2012. Dieses Buch können Sie bei der borro medien gmbh kaufen.

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