Schnitzeljagd durch New York – Kathrin Aehnlichs Roman „Wenn die Wale an Land gehen“

Cover Wenn die Wale an Land gehenKathrin Aehnlich schickt ihre Protagonistin Roswitha auf Schnitzeljagd durch New York, auf den Spuren von Mick, eines Freundes aus Studienzeiten. Während ihr Micks New Yorker Freunde aus der Hippieszene bei der Suche helfen, werden Erinnerungen an ihre Studienzeit in den achtziger Jahren in der DDR wach. Ein gestrandeter Wal wird zum Symbol für ihr Leben.

Ein blaues Auge

Roswitha Sonntag, Anfang 50, hat sich gerade von ihrem Mann Wladimir scheiden lassen, nach 25 Jahren Ehe, und reist nach New York, um ihren Studienfreund Mick zu suchen. Mit dieser Reise erfüllt sie sich einen fast ebenso alten Traum. Sie hatte Mick zu Beginn ihres Studiums in den achtziger Jahren an einer Ingenieursschule in der DDR kennengelernt. Sie und weitere Freunde verband die Abneigung gegen das Studium, der ganze Technikkram war ihnen schnuppe, sie interessierten sich für Kunst und Kreativität. Nicht sie hatten sich das Studium ausgesucht, sondern die Genossen in den VEB und LPG, in denen ihre Eltern arbeiteten.

Roswitha, Mick und ihre Freunde teilten auch die tiefe Abneigung gegen die spießige DDR-Gesellschaft und den Wunsch nach mehr Freiheit. Mick war der Visionärste und Rebellischste unter ihnen, treibende Kraft bei ihren Unternehmungen. Sie hörten gemeinsam West-Musik (Mick Jagger, nach dem Mick – eigentlich Michael – sich seinen Spitznamen gegeben hatte, Janis Joplin, Rolling Stones …) und lebten während des Studiums in einer eigenen Welt. Musik spielt in dem Roman überhaupt eine große Rolle, es ist ein musikalischer Roman, nicht nur der Sprache wegen, man könnte einen Soundtrack zusammenstellen („I can‘t get no satisfaction“, „The dark side of the moon“ …).

New York war ihr Sehnsuchtsziel, Synonym für Freiheit. Mick hat es dorthin geschafft, Roswitha blieb. Sie passte sich nach dem Studium schnell an, heiratete Wladimir und bekam ein Kind. Mick ging dagegen in die innere Emigration und floh aus der DDR. Eine andere Studienfreundin versuchte, unkonventionell zu bleiben – und scheiterte damit auf tragische Weise. Ihr Tod markiert das traurige Ende ihrer Träume, den Moment, in dem die triste Realität des grauen Alltags triumphiert.

Die Reise nach New York ist für Roswitha deshalb ein Trip in Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig. Ihr ist es gelungen, die schwere Decke des Alltags zurückzuschlagen und den Traum aus der Abstellkammer zu holen, wo er all’ die Jahre auf sie wartete. Sie hofft, in New York mit ihrem bisherigen Leben abschließen und noch einmal neu anfangen zu können. Doch zuerst holt sie sich ein blaues Auge.

Von Mick hat sie nichts weiter als eine alte Postkarte mit einer Adresse. Nach einigen Irrwegen durch New Yorks U-Bahnschächte dort angekommen, klopft sie (es gibt keine Klingel), wartet und will durch das Schlüsselloch spähen. „Es war ein Fehler. Wie bei einer Kneipe öffnete sich die Tür nach außen und schickte Roswitha mit einem kurzen Schlag zurück Richtung Umspannwerk.“ Das war ihr unterwegs auf der anderen Straßenseite aufgefallen. Solche Szenen, die ans Slapstickhafte grenzen, die einen unwillkürlich schmunzeln lassen, gibt es im Buch häufiger.

Der Mann, der ihr die Tür schwungvoll vor den Kopf knallte und den sie von da an „den Cowboy“ nennt (obwohl er sich mit „Jorg“ vorstellt), verarztet sie und entpuppt sich dabei als ein früherer Mitbewohner von Mick. Er wird sie durch New York lotsen, ihr eine neue Unterkunft in einer Alt-68er-Kommune verschaffen und Kontakt zu Micks Freunden herstellen. An seiner Seite und durch Micks Freunde und Bekannte erlebt sie New York abseits der Touristenpfade. Den Boden für diese dicht erzählten Passagen bereitete ein New-York-Aufenthalt 2009, dessen Eindrücke sie auch in dem Erzählungsband „Rom – New York – Markkleeberg“ (2011) verarbeitet.

Erinnerungen

Währen Roswitha nach Mick sucht und von einer helfenden Hand zur nächsten weitergereicht wird, ohne ihm zunächst entscheidend näher zu kommen, wandern ihre Gedanken zurück in die achtziger Jahre, in die Zeit, als sie mit Mick mehr als befreundet war. Warum sind sie nicht zusammengeblieben? Warum flüchtete sie sich in die Arme von Wladimir? Beging sie Verrat an dem, was ihnen im Studium wichtig geworden war, Freiheit, ein Leben abseits der Konventionen?

In diesen Rückblenden lässt Aehnlich den DDR-Alltag der späten achtziger Jahre aufleben und schildert das Lebensgefühl der jungen Erwachsenen, die sich gegen die Welt und die Lebensweise ihrer Eltern auflehnen und doch wissen, dass sie nicht die Freiheit haben, dauerhaft anders zu leben, als ihnen die gesellschaftlichen Zwänge vorgeben.

Die Beispiele aus dem DDR-Alltag, die Aehnlich dabei schnörkellos-trocken und gerade deshalb tragikomisch erzählt, zeigen, wie marode der Staat war, ob ein Wohnhaus einstürzt, weil eine Bewohnerin wütend eine Tür zuknallt, ob es um das verfehlte Planziel des Traktorenwerks geht, in dem Roswitha nach dem Studium arbeiten muss, für das der Produktionsdirektor mal eben 1000 potemkinsche Traktoren erfindet, damit wenigstens die Jahresendprämien der Mitarbeiter nicht flöten gehen, oder ob es um den Neubau eines VEB-Gebäudes geht, der sich auch deshalb so lange hinzieht, weil die Mitarbeiter sich an den Baumaterialien bedienen.

Während diese Episoden eher skurril sind und zum Schmunzeln verleiten, geht der Einblick in den Alltag der DDR-Psychiatrie unter die Haut. Roswithas Mann gerät in deren Mühlen, als er einen Krankenhausaufenthalt abbricht und sich dagegen wehrt, von der Polizei zurückgebracht zu werden. Inkompetenz, Desinteresse, die Unfähigkeit, Fehler einzugestehen, führen dazu, das Wladimir monatelang weggeschlossen und mit Medikamenten vollgepumpt wird. Erst die Wende 1989 befreit ihn aus den Fängen der Anstalt.

Der gestrandete Wal

Kathrin Aehnlich erzählt in starken Bildern. Das blaue Auge gleich zu Anfang des Romans ist so ein Bild, ein anderes, für das Buch zentrales, weil es vielleicht Roswithas Seelenzustand beschreibt, ist der gestrandete Wal, auf den auch der Buchtitel und das Cover verweisen. Auf einem ihrer Streifzüge mit dem „Cowboy“ stößt sie auf Coney Island auf das Tier. Von Ferne sieht aus wie „ein vom Himmel gestürzter Zeppelin“, denkt Roswitha. Der „Cowboy“ und sie schließen sich den Helfern an, die den Wal mit Wasser übergießen, um ihn bis zum Einsetzen der Flut am Leben zu erhalten.

„Warum ist er an Land geschwommen?“, fragte Roswitha. „Ich dachte, Wale sind klug.“ – „Wer sagt denn, dass er es aus Dummheit getan hat? Es passiert immer wieder, und niemand weiß warum. Es gibt einige Erklärungsversuche, Verführung durch die Töne der Schiffsschrauben und die zunehmende Tankerdichte. Aber für mich bleibt es trotzdem ein Rätsel“, antwortet ihr der „Cowboy“.

Sie arbeiten bis zum Einbruch der Dunkelheit, dann kommt die Flut.

„Es fiel ihnen schwer, den Wal seinem Schicksal zu überlassen. Als sie gingen, drehte sich Roswitha nicht um. Sie wünschte sich, dass der Zeppelin in dieser Nacht aufsteigen und davonfliegen würde.“

Auch der Kluge kann sich irren und dabei stranden, dann kommt es darauf an, dass er Hilfe findet; wer gestrandet ist, kann auch wieder freikommen – vielleicht lässt sich diese Episode so deuten.

Der Roman strahlt bei aller Melancholie, die die Rückblicke in Roswithas Vergangenheit mit sich bringen, bei allem Bedauern, das bei der (unausgesprochenen) Frage mitschwingt, ob ihr nicht auch ein anderes Leben möglich gewesen wäre, bei all dem also strahlt dieser Roman doch Optimismus aus. Auch mit 50 ist es noch nicht zu spät, einen neuen Anfang zu wagen. Und wenn das noch nicht genug Einladung ist, dann liste ich gerne noch mehr Eigenschaften auf: ein lebenspraller, kluger Roman über die Macht der Träume, ein Abgesang auf die DDR, in einer ausgesprochen schönen, melodischen Sprache geschrieben, die die Lektüre zum Genuss macht.

Kathrin Aehnlich: Wenn die Wale an Land gehen. Roman. München, Kunstmann 2013. 252 S., 19,95 €. Leseprobe und weitere Informationen beim Verlag Antja Kunstmann.

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