Aufgestapelte Identitäten

Cover KanadaWer bin ich? Wie bin ich der geworden, der ich bin? Über diese Fragen kann man kluge philosophische und psychologische Abhandlungen schreiben – oder einen fulminanten Roman, wie Richard Ford. In „Kanada“ lässt er Dell Parsons, einen 66 Jahre alten Highschool-Lehrer, auf das Jahr zurückschauen, in dem er 15 war. Damals, im Sommer 1960 wurde sein bisheriges Leben zertrümmert und seine Familie zerfiel. Zu dieser Zeit lebte er mit seiner Zwillingsschwester Berner und seinen Eltern in einer kleinen Stadt in Montana.

Dells Vater Bev war gerade aus der Air Force ausgeschieden und versuchte, im zivilen Berufsleben Fuß zu fassen. Ohne Erfolg. Dells Mutter kümmert sich um den Haushalt und arbeitet ein paar Stunden als Lehrerin in einer Schule in der Nähe. Dell ist ein Einzelgänger, interessiert sich für Bienen und Schach und freut sich auf die Highschool, auf die er nach den Sommerferien wechseln wird. Seine Schwester Berner hat seit einiger Zeit vor allem Jungen im Kopf und verbringt möglichst viel Zeit außer Haus.

Weil es mit dem Geldverdienen nicht so recht klappen will, lässt Bev Parsons sich auf krumme Geschäfte mit Indianern ein. Das geht gründlich schief und er steht mit 400 Dollar Schulden da. Ein Banküberfall ist für ihn die naheliegendste Lösung des Problems.

Auch wenn der Banküberfall selbst reibungslos über die Bühne geht, dauert es doch nicht lange, bis die Polizei bei den Parsons vor der Türe steht. Weil Dells Mutter den Fluchtwagen gefahren hat, werden beide Eltern verhaftet. Einmal besuchen die Geschwister ihre Eltern im Untersuchungsgefängnis, dann sehen sie sie nie wieder.

Berner haut aus Angst vor dem Jugendamt ab, Dell lässt sich von einer Freundin seiner Mutter nach Kanada bringen, zu ihrem Bruder Arthur Remlinger. Er arbeitet in Remlingers heruntergekommenem Hotel in einem Kaff in Saskatchewan. Dort darf er aber nicht wohnen, sondern haust in einer Baracke am Rande einer Geisterstadt in der Nähe; durch die Ritzen in den Wänden pfeift im Winter der eisige Präriewind. Dell sieht sich aus dem Kokon eines Familienlebens in einfachen Verhältnissen in ein hartes Leben katapultiert, gekennzeichnet von Einsamkeit, Leere und Lieblosigkeit. Seine Highschoolträume muss er begraben, statt um Schach und Bienenzucht kümmert er sich um die Gänsejagd, die Haupteinnahmequelle des Hotels. Dann zieht Remlinger ihn in ein Verbrechen mit hinein, das ebenso unnötig ist wie der Banküberfall durch seine Eltern.

Wie übersteht jemand das, wenn ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wird? Das vor allem habe ihn an Dell Parsons interessiert, sagt Richard Ford in einem Interview mit dem Spiegel. Dell übersteht diese Katastrophen, weil er sich in sein Schicksal fügt und nicht dagegen ankämpft. „Ich war allein in meinem Bett aufgewacht, hatte meiner Schwester nachgesehen, als sie aus meinem Leben ging, vielleicht für immer. Meine Eltern saßen im Gefängnis. Ich hatte niemanden, der sich um mich kümmerte oder sorgte. Was habe ich zu verlieren?, das war jetzt wohl die richtige Frage. Und die Antwort lautete – sehr wenig.“

Dell lernt im Laufe der Zeit, dass er am besten zurecht kommt, wenn er sich einer neuen Situation anpasst: „Die meisten Dinge bleiben nicht sehr lange, wie sie waren. … Ich versuche einfach, nichts als gegeben zu nehmen und für die nächste Veränderung bereit zu sein, die garantiert bald kommt.“

Diese Veränderungen, zumindest wenn sie so einschneidend sind wie die, die Dell durchleben musste, bleiben nicht ohne Auswirkung auf die Persönlichkeit. Ja, Dell kommt sogar zu dem Schluss, dass sich die Persönlichkeit ändern muss, wenn man mit so existenziellen Erfahrungen zurechtkommen will. „Ich wollte daran festhalten, wer ich war und was ich von mir wusste, gerade weil all das so sehr in Frage gestellt wurde. … [Doch:] Wenn der Auftrag jedes Menschen auf der Welt darin bestand, Erfahrungen zu sammeln, konnte es manchmal notwendig sein, ein anderer zu werden, auch wenn ich nicht wusste, was für ein anderer das sein sollte, und stets davon überzeugt gewesen war, dass wir immer dem Menschen treu bleiben, als der wir im Leben begonnen hatten – so hatte es uns unsere Mutter beigebracht. Mein Vater hätte natürlich gesagt, dass dieser erste Mensch – als der ich angefangen hatte – jetzt sinnlos geworden war und einem anderen Platz machen musste, der bessere Chancen hatte.“

Dells Überlegungen führen in die Mitte dessen, was wir unter Identität verstehen. Richard David Prechts Frage „Wer bin ich? Und wenn ja wie viele?“ verliert hier ihren witzigen Unterton. Wer ist „Ich“? Woraus besteht es? Was verbindet das Ich eines 40-Jährigen mit dem Ich, das er als 15-Jähriger war? Richard Fords Antwort: die Erinnerungen. Die verschiedenen Versionen des Ichs eines Menschen sind dann ineinander gestapelt wie Matrjoschkas, die russische Holzpuppen. Nur deshalb kann der 66-jährige Dell beschreiben, wie es ihm als 15-Jährigem ergangen ist und welche Gefühle er damit verbindet.

Dells Schwester Berner gestaltete Richard Ford als eine Art Gegenentwurf . Sie lässt sich nicht vom Schicksal treiben, sondern nimmt ihr Leben selbst in die Hand – und scheitert daran.

Mich hat Richard Fords Sprache fasziniert. Er erzählt Dells dramatische Geschichte in nüchternem Ton, ohne großes Pathos. Dann die Art und Weise, wie Ford mit Andeutungen Spannung erzeugt: „Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Morden, die sich später ereigneten“, lauten die ersten Sätze des Romans. Nur in einem Nebensatz erwähnt Dell, dass seine Mutter im Gefängnis Selbstmord begeht. – Diese Beiläufigkeit erzeugt eine beklemmende Stimmung, weil man sich fragt, was kommt noch auf Dell zu, wenn der Selbstmord nur eine Nebensächlichkeit ist? Oder bedeutet diese Beiläufigkeit, dass Dell seine Eltern auf so große Distanz gebracht hat – bringen musste, um mit der Geschichte leben zu können?

Seine Figuren hat Ford mit komplexen Charakterzügen ausgestattet. Keine von ihnen ist nur gut oder böse und alle behalten einen Rest Undurchschaubarkeit. So bleibt z.B. offen, warum Dells Mutter sich wider besseren Wissens in den Banküberfall hineinziehen ließ und warum sie bei ihrem Mann blieb, obwohl die Ehe schon länger morsch war, wie Dell aus dem Tagebuch seiner Mutter erfuhr, das sie während der Haft führte.

Richard Ford liefert mit diesem Roman ein faszinierendes Gedankenspiel zur Frage der Identität, einer der grundlegenden Fragen des Menschseins. Doch das fällt beim Lesen kaum auf, weil der Leser in erster Linie damit beschäftigt ist, Dells Schicksal zu verfolgen und auf die Wendung zu warten, die es ihm ermöglicht, aus dem Albtraum auszusteigen, zu dem sein Leben geworden ist.

Richard Ford: Kanada. Roman. München, Hanser 2012. Dieses Buch können Sie bei der borro medien gmbh kaufen.

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